Tagebucheintrag: 15. August 2025

Wie ich hier in meinem Zimmer sitze, hinausschaue, der Schreibtisch vor das Fenster gestellt, denke ich daran, wie gerne ich jetzt mit den anderen draußen sein und frischen Çay vom Feuer trinken würde. Süßer, rauchiger Çay. Auch ganz egal wie sehr ich mich anstrenge, meine Gedanken sammeln sich einfach nicht um die vor mir zu lösenden Schulaufgaben. Ich wende meinen Blick ab davon und sehe den Kalender vor mir. 15. August. Dann wandern meine Augen hinüber zu dem Bild, was meine kleine Schwester Arîn mal gemalt hat und mir damals mit ihrem freudigen, warmen und selbstlosen Gesicht in die Hände gedrückt hat. Darauf steht „Zuhause“. Unter dem Schriftzug ist ein Fluss abgebildet. „Munzur“ denke ich. Im Hintergrund sind Berge zu sehen. Unsere Berge. Und dort, das sehe ich erst jetzt, da stehen Menschen auf den Bergen, in einer Reihe tanzend in Kleidung mit den Farben des Waldes, der Erde. Als wollte Arîn, dass man sie erst beim zweiten Mal hinschauen sieht. Zuvor habe ich sie doch glatt für grau-weiße Tauben gehalten.

Ich gucke wieder zum Kalender herüber. 15. August! denke ich. Das heißt:

41 Jahre ist es nun her. Der 15. August 1984. Der Tag an dem der erste Schuss von der Arbeiterpartei Kurdistans in Erûh, Bakûr fiel. Eine 36 Personen starke Gerîla-Gruppe unter der Führung des Kommandanten Egîd (Mahsum Korkmaz) führte an diesem Tag den ersten bewaffneten Angriff gegen die türkischen Besatzungstruppen durch. Auf Grundlage der Philosophie und Mühen Rêber APO’s, welcher Anfang der 1970er Jahre mit einer Gruppe junger Menschen auf die Bühne der Geschichte trat und die Hoffnung des kurdischen Volkes auf Freiheit wieder aufleben ließ. Wie es wohl wäre heute mit Rêbertî über diesen Tag zu diskutieren? Um ihn ganz zu verstehen, muss ich seinen Blick auf das Leben verstehen und jedem Tag, jedem Moment Bedeutung geben. So, wie der 15. August nicht nur heute, sondern an jedem Tag Bedeutung trägt. Er bedeutet aufzustehen!

Es ist der Tag an dem der bewaffnete Kampf meiner Gesellschaft angefangen hat. Letztens erst hielt ich das Tagebuch von Şehîd Sara (Sakine Cansiz) in der Hand, wo sie über diesen Tag schreibt, über die Reaktion im Amed-Gefängnis, indem sie zu der Zeit eingesperrt war: „Der Kampf wird sich weiterentwickeln. Jetzt gibt es eine Gerîla!“ Ich sehe sie vor mir, die Freundinnen, die vom massakrierenden Staat isoliert werden, in grauen Mauern aus Beton. Sie hören die Abendnachrichten, wie die Aktion unter dem Kommando von Heval Egîd bekannt gegeben wird. Ich fühle mich als wäre ich bei Ihnen. Fühle die Kälte der Wände. Zugleich fühle ich, wie mich die langen Haare kitzeln, die durch den Wind um mein Gesicht gewirbelt werden, als würde ich im Freien stehen – vielleicht auf einem Berg? Die Freundinnen der Geschichte, in den Zellen im Widerstand, auf den Bergen mit der Waffe in der Hand. Mit diesem Tag hat auch der Kampf für die Befreiung der Frau eine ganz neue Dimension angenommen.

Wenn Şehîd Sara in ihrem Tagebuch über den 15. August schreibt, sehe ich meine eigenen Gedanken. Wir müssen unsere Entwicklung der freien Frau, mit eigenen Gedanken und starken Willen mit dieser Initiative von damals verbinden.

Was sagte Heval Delal über diese Zeit? Im Regal neben dem Bild von Arîn liegt ihr Buch: „Heute sind wir eine Armee geworden. Wir können die Entfaltung unserer Bewegung, die die Freiheit der Frau erkämpft nicht unabhängig davon weiterführen. Diese Aktion ist ein Aufstand in Kurdistan, damit beweist ihr die Existenz der kurdischen Frau.“  Es ist gleichbedeutend mit dem Sein, es bedeutet als Frauen zu einer Kraft zu werden und gemeinsam in die Befreiung zu gehen. Diese Armee ist nicht nur eine mit Waffen ausgestattete Truppe. Sie ist eine Einheit, die bereit ist ihr Sein und ihre Kultur zu verteidigen. Es bedeutet sich als Teil eines Ganzen zu fühlen. Die Waffe ist zugleich ein Symbol: Für den Kampf unserer Gesellschaft und der darin liegenden Suche nach Freiheit. Danach, uns nicht der Unterdrückung und den Vernichtungsversuchen zu unterwerfen. Selbstverteidigung ist verbunden mit dem Sein selbst. Täglich tun wir dies, egal wo, wir verteidigen und schaffen eine Mentalität, die auf Menschlichkeit beruht. Mit dem ersten Schuss der kurdischen Gerîla, hat das neue Leben, eine Wiedergeburt begonnen. Es bedeutet unsere Identität zu schützen und für diese zu kämpfen. Mit diesem Tag hat auch eine neue Suche begonnen. Eine Suche, die bis heute anhält und ohne Ende sein wird. Und das Ziel ist klar. Die Waffe war damals, und so ist auch heute jeder Stift und jedes Buch in Richtung Freiheit gerichtet. So will ich mit meinen Freundinnen werden, wie eine Frauenarmee, die unaufhaltsam ist und bereit ist sich selbst zu befreien. Von den Zwängen des Tötens, des Raubens der Identität, Sprache und Musik, den Zwängen uns nicht frei bewegen zu können, nicht zu wissen wer wir sind und wo wir hingehören. Den Zwängen keine Heimat zu haben? Wir haben eine Heimat und wir haben eine Identität. Ich bin eine kurdische junge Frau!

Ich sollte raus gehen. Schnell mache ich meine Aufgaben. Ich werde raus gehen!

Raus zur großen Feier, alle tanzend miteinander, die Hände mit der jeweilig danebenstehenden verschränkt. An diesem Tag ist das Leben neu entstanden, ein Leben welches wir im Widerstand, wie seit Jahrzehnten, Jahrhunderten, aber in unserer Heimat leben werden. In Kurdistan. Das Land der Blumen, Flüsse und Gefallenen, die für die Befreiung dieser Erde über ihr eigenes Leben hinaus gingen. Ich entschließe mich heute meine Kultur zu suchen, zu verstehen, zu verteidigen, so wie sich die Freunde am 15. August gegen die Sklaverei der Gesellschaft und die Besatzung entschieden haben zu widersetzten.

Es ist der Tag an dem unser Volk gezeigt hat, dass es sich nicht brechen lässt. In einer Zeit, in der wir zum Schweigen gezwungen werden sollten, haben sich Menschen erhoben und gesagt: „Wir sind da, wir geben nicht auf!“. Dieser Tag erinnert mich daran, dass Freiheit nicht geschenkt wird, sondern erkämpft werden muss.

Es ist der Tag an dem der Kampf für die Freiheit von Neuem begonnen hat.

Ich gehe raus…

„15ê Tebaxê ji bo mirovahî xwedî derketin e.“

– Rêber APO