von Newroz Ristem
Der Anfang: Die Befreiung des Landes und der Aufbau einer neuen Gesellschaft
In Rojava war die Befreiung des Landes von der Besatzung nicht das einzige Ziel. Viel wichtiger war der Aufbau eines neuen Gesellschaftssystems, das auf der Partizipation des Volkes und der Freiheit der Frau basiert. Diese Einschätzung bildet die Grundlage für das Verständnis der Rojava-Revolution – nicht als militärische oder traditionelle politische Bewegung, sondern als tiefgreifenden sozialen und philosophischen Wandel.
Mit dem Beginn des Aufstands 2011 in Syrien wählte das Volk der Kurdinnen und Kurden eine eigene Strategie im Umgang mit dem autoritären Regime. Diese Strategie war nicht nur militärischer Widerstand, sondern ein gesellschaftliches Projekt, das eine freie und unabhängige Gesellschaft auf der Basis der Beteiligung des Volkes anstrebt. Dieser Weg stellt eine Revolution dar, die über die klassischen Modelle des autoritären oder nationalstaatlichen Systems hinausgeht.
Die dritte Option: Eine Alternative zum Nationalstaat (Demokratischer Konföderalismus)
Von Beginn an lehnte die Rojava-Revolution es ab, Teil der bestehenden politischen Kräfte zu sein. Sie akzeptierte weder das Assad-Regime noch die islamistisch-sektiererische Opposition als Alternative. Im Herzen dieses Konflikts wurde ein neues Projekt vorgeschlagen: die sogenannte „dritte Option“.
Diese Option ist weder neutral noch passiv – sie lehnt den Nationalstaat als Lösung entschieden ab.
In seinen Analysen erwähnt Abdullah Öcalan: „Der Nationalstaat ist nicht die Lösung, sondern das Problem.“
Auf dieser Grundlage ist die dritte Option nicht nur eine politische Strategie, sondern ein umfassendes Modell, das sich gegen die kapitalistische Moderne und traditionelle Regierungsformen richtet.
Wie Ilham Ahmed (Außenbeauftragte der Demokratischen Selbstverwaltung in der Region Nord- und Ostsyrien) erklärt: „Unsere Revolution wartet nicht auf äußere Siege. Wir organisieren uns Tag für Tag selbst.“
Die zentrale Frage: Wer füllt das Vakuum nach dem Zusammenbruch des Nationalstaats?
Die entscheidende Frage nach dem Fall eines autoritären Regimes lautet: Wer füllt das Machtvakuum?
Gegenüber radikalen, aber gesellschaftlich entwurzelten Projekten darf dieses Vakuum nicht unbesetzt bleiben.
Hier präsentiert sich die dritte Option als realistische und notwendige Alternative.
Es ist ein Projekt, das nicht auf den Fall der alten Macht wartet, sondern jetzt schon beginnt, eine freie Gesellschaft aufzubauen – auf neuen Grundlagen: Kommunen, kollektive Partizipation, Frauenorganisationen, Dörfer und Alltagsleben.
Rojava wartete nicht auf den „Sturz Assads“, sondern begann mit der echten Revolution: dem Wiederaufbau der Gesellschaft, nicht der Übernahme alter Machtstrukturen.
Das tatsächliche gesellschaftliche Fundament ist das, was die dritte Option ausmacht – ein kollektives Projekt, das nicht auf neue Herrschaft zielt, sondern auf Werkzeuge zum Aufbau des Lebens basiert.
In der Geschichte sind politische Systeme oft gefallen, nur um durch neue Eliten oder alte Denkweisen ersetzt zu werden.
In Rojava hingegen wurde ein anderes Prinzip eingeführt:
- Keine Entscheidungen ohne die Gesellschaft
- Keine Führung ohne Frauen
- Keine Macht ohne gesellschaftliche Verantwortung
Diese Sichtweise entlarvt das „männlich-nationalstaatliche Einparteiensystem“.
„Jin, Jiyan, Azadî“: Die Grundlage der Jineolojî
Die Revolution wurde nicht im Namen einer Nation geführt, sondern für jene, deren Stimmen zum Schweigen gebracht wurden.
Rojava wurde nicht als Projekt zur Errichtung eines Nationalstaates der Kurdinnen und Kurden präsentiert. Es wurden keine engen nationalistischen Parolen gerufen und keine nationalen Fahnen gehisst.
Vielmehr wurde ein freies Modell entworfen, das den Nationalstaat ablehnt und eine partizipative, vielfältige Gesellschaft unter der Führung von Frauen aufbaut – definiert nicht über ethnische Zugehörigkeit, sondern über die Menschen der Region.
Doch der erste Slogan der Revolution lautete:
„Jin, Jiyan, Azadî“ – „Frau, Leben, Freiheit“
Dieser Slogan überwindet Identitäten und Zugehörigkeiten und spricht die Sprache der Menschlichkeit.
Er richtet sich gegen Faschismus, gegen patriarchal-autoritäre Systeme, gegen Sexismus, ethnische und religiöse Diskriminierung und gegen die Konzentration von Macht – selbst, wenn sie im Namen von Religion oder Nation ausgeübt wird.
Die Revolution erklärte: nationale und konfessionelle Grenzen zählen nicht – der Kern ist die Menschlichkeit.
Die Rojava-Revolution bewies, dass die Freiheit der Gesellschaft ohne die Freiheit der Frau nicht möglich ist.
Wahre Freiheit existiert nicht im Rahmen des Nationalstaats.
Deshalb ist die Rojava-Erfahrung kein nationalistisches Projekt, sondern ein radikales Modell zur Überwindung des Staates – insbesondere des Nationalstaats.

Jineolojî als Wissenschaft der Frau
Der Vordenker Abdullah Öcalan definiert Jineolojî als „Wissenschaft der Frau“.
Seiner Analyse nach war „die Frau die erste Kolonie“ – und alle anderen Formen der Herrschaft reproduzieren diesen Ursprung.
Das Leben zu befreien ist ohne eine radikale, auf die Freiheit der Frau basierte Revolution, die das Denken und das Leben des Mannes verändert, nicht möglich. Wenn wir keinen Frieden zwischen Mann und Leben, zwischen Leben und Frau schaffen können, bleibt Glück nur ein leerer Wunsch.
Die führende Rolle der Frauen in der Revolution
Vom bewaffneten Kampf bis hin zur politischen und ideologischen Führung – die Frauen waren nicht nur Teil der Revolution, sondern ihre Vorreiterinnen.
Sie führten den Aufbau der demokratisch-partizipativen Gesellschaft in Rojava an.
Sie kämpften an vorderster Front – und schützten das Projekt auch politisch: ein dezentrales, gerechtes und grenzüberschreitendes Projekt.
Dieser Wandel war kein Zufall, sondern das Ergebnis kollektiven Bewusstseins, das auf der Philosophie von Abdullah Öcalan basiert.
Die Volksbeteiligung ist ohne die Freiheit der Frau nicht denkbar.
Deshalb sind Organisationen wie „Kongra Star“ (2005 in Rojava als Dachverband für Frauen gegründet), Frauenräte und gemischte Gerichte nicht nur Verwaltungsstrukturen – sie sind strukturelle Grundpfeiler.
Ein neues Machtmodell: keine Herrschaft, sondern Teilhabe
Die Präsenz von Frauen in Rojava ist kein symbolisches Zugeständnis, sondern eine grundlegende Neudefinition der Revolution selbst.
Eine Freiheitsbewegung, die bei den Entscheidungen des Alltagslebens beginnt und die Macht von den Straßen bis hin zur 50%-Repräsentation in allen Institutionen neu verteilt.
Dieses Bewusstsein – dass „Freiheit ohne Freiheit der Frauen unvollständig ist“ – ist das Herzstück von Abdullah Öcalans Philosophie, der betont:
Alle Formen der Macht begannen mit der Unterdrückung der Frau – und die Revolution beginnt mit dem Bruch dieser Kette.
Eine organisierte Gesellschaft gegen den autoritären Staat
Von Beginn an war die Rojava-Revolution nicht nur gegen das Assad-Regime gerichtet, sondern ein Projekt zum Aufbau eines alternativen Modells – gegen Staat und Herrschaft.
Während die Opposition auf den Sturz des Assad-Regime wartete, begann Rojava, seine Selbstverwaltung durch Räte, Kommunen und gesellschaftliche Beteiligung zu organisieren.
Nach der Vorstellung von Abdullah Öcalan ist der Staat kein neutrales Werkzeug, sondern ein Mittel der Kontrolle – und muss von Grund auf überwunden werden.
Macht existiert nicht nur innerhalb des Staates, sondern verteilt sich ungerecht in der Gesellschaft selbst.
Das Verständnis dieser Struktur verlangt einen grundlegenden Wandel – nicht nur an der Spitze des Staates, sondern in seiner gesamten Form.
Der Demokratische Konföderalismus als Alternative
Das Rojava-Modell basiert nicht auf einem „Post-Staat“, sondern auf einem „Post-Macht“-Ansatz.
Politik bedeutet hier nicht nur Wahlen oder Staatsinstitutionen, sondern gesellschaftliches Handeln – Selbstorganisation durch Räte, Kommunen und Institutionen.
Das ist ein realistisches Modell: dezentral, nicht-hierarchisch, partizipativ – vor allem mit den Frauen im Zentrum.
Abdullah Öcalan definiert den Demokratischen Konföderalismus als „den ethischen, politischen und administrativen Ausdruck der Gesellschaft“.
Er ist nicht nur ein Regierungssystem, sondern eine ganzheitliche Lebensweise, die auf ethischen Prinzipien, kollektiver Beteiligung und Selbstverwaltung basiert.
Nicht „nach Assad“, sondern „nach der Macht“
Rojava strebt nicht nach einem Anteil an der Macht „nach Assad“, sondern verfolgt generrell den Weg „nach der Macht“.
Ein Modell, das keinen Präsidenten braucht – sondern eine Gemeinschaft, die sich selbst führt: kollektiv und verantwortlich.
Während sich andere um den Thron in Damaskus streiten, geht Rojava einen anderen Weg: den Aufbau einer freien Gesellschaft, die sich nicht über eine Hauptstadt definiert, sondern über kollektive Teilhabe.
Das Ziel ist keine politische Lösung oder ein vorübergehender Kompromiss, sondern eine langfristige Revolution, die mit einer zentralen Frage beginnt: Wie können wir ein Leben aufbauen, das keinen Präsidenten braucht?
Ethisches Engagement und ständige Erneuerung
Was die Rojava-Revolution auszeichnet, ist ihre Lebendigkeit und Dynamik – sie entwickelt sich weiter gemäß den Bedürfnissen der Gesellschaft.
Gleichzeitig bewahrt sie ihren ethischen Kern: den Aufbau einer partizipativen Gesellschaft, die Freiheit, kulturelle Vielfalt und Gleichberechtigung achtet.
Doch die Frage bleibt:
Können wir dieses ethische Engagement im Spannungsfeld von Krieg, Politik, Wirtschaft und Kultur aufrechterhalten?
Wie verhindern wir, dass das Projekt in eine neue Staatsform oder symbolische Machtposition verfällt, die seine ursprüngliche Seele schwächt?
Rojava gibt keine endgültigen Antworten, sondern setzt auf ständigen inneren Dialog, Selbstkritik und Experimentieren.
Dieser ethische Kern schützt die Erfahrung vor Zerfall und gibt ihr die Kraft, weiterzugehen, ohne ihre Seele zu verlieren.
Fazit: Rojava als lebendiges Labor
Rojava ist keine Utopie und kein fertiges Modell – es ist ein lebendiges Labor zur Schaffung einer ethisch fundierten Gesellschaft durch reale Menschen mit Wut und Hoffnung.
Es ist ein kulturelles und ethisches Projekt, das die Beziehung zwischen Macht und Gesellschaft, zwischen Individuum und Kollektiv neu denkt.
Echter Wandel beginnt im ethischen Fundament – und kann dort nicht kompromittiert werden.
Die Rojava-Erfahrung ist nicht nur für die Kurdinnen und Kurden wichtig, sondern für die gesamte Menschheit.
Sie zeigt, dass gesellschaftliche Alternativen keine Fantasie sind, sondern in der Realität verwirklicht werden können.
Wie Abdullah Öcalan erwähnt:
„Die Zukunft der Menschheit liegt nicht in den Händen der Staaten, sondern in den Händen freier Gesellschaften, die sich selbst organisiert haben und auf kollektiver Teilhabe basieren.“
Die Rojava-Revolution ist ein Zeichen dieser Zukunft – sie zeigt, wie sich eine Gesellschaft aus der Umklammerung von Staat, Kapitalismus und Patriarchat befreien und auf der Grundlage von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit leben kann.


