Abdullah Öcalan am 15. August 2009 Begrifflicher Rahmen Bis in die jüngste Vergangenheit konnten in der Türkei einige Probleme selbst auf der begrifflichen Ebene nicht diskutiert werden, da es bisweilen sogar verboten war, sie zu benennen. Der Begriff »Kurden« war wie viele linke Begrifflichkeiten zuvor verboten worden. Noch immer wird der Begriff »Kurdistan« gescheut und von offiziellen Stellen vermieden. Statt einer wissenschaftlichen Herleitung des Begriffes können wir mit Leichtigkeit eine Vielzahl von Belegen dafür anführen, dass er sich auf die in der Region lebenden Menschen bezieht und in den Zeiten der Seldschuken und Osmanen in der Bedeutung »Land der Kurden« intensiv verwendet wurde. Bei der Gründung der Republik wurde er in Begriffen wie »Kürdistan mebusu« (Abgeordneter von Kurdistan), »Kürdistan meclisi« (Parlament von Kurdistan) und »Kürdistan vilayeti« (Governorat Kurdistan) von Mustafa Kemal Pascha persönlich oft verwendet. Dass in der Zeit der Verleugnung und Assimilation die Begriffe »Kurde« und »Kurdistan« verboten waren, kann ihre Gültigkeit nicht beeinträchtigen. Auf dem Weg zu einer Lösung führt ein Verbot der Verwendung der Namen »Kurden« und »Kurdistan« von vornherein in eine Sackgasse. Sollten sie dagegen in falscher und inakzeptabler Weise verwendet werden, so werden einige diesen Gebrauch und das entsprechende Denken ablehnen. Einer der Begriffe, die zuallererst definiert werden müssen, ist derjenige der »Demokratisierung« selbst. Es handelt sich um einen Begriff, der in der Türkei stark verzerrt wird. So, wie ich ihn verwende, besitzt er keinen Klassenbezug, sondern umfasst alle Bereiche der Gesellschaft, ohne den Stempel einer Klasse oder Schicht zu tragen. Er bezeichnet die Garantie derselben Meinungs- und Organisationsfreiheit, derselben Rechte und Freiheit gegenüber dem Staat für alle Teile der Gesellschaft, unabhängig von der Zugehörigkeit zu einer Mehr- oder Minderheit, eine linguistischen, religiösen, ethnischen oder nationalen Gruppe. Es wäre weder richtig, den Staat in der Demokratie zu suspendieren, noch die Demokratie durch den Staat. Beide besitzen unterschiedliche Rollen und Funktionen. Eines der wichtigsten Probleme der Demokratisierung ist die Balance zwischen Demokratie und Staat. Zwei andere wichtige Begriffe, die auf dem Weg zu einer Lösung geklärt werden müssen, sind »Republik« und »Nationalstaat«. Nicht jede Republik ist ein Nationalstaat – denken wir nur an die Römische Republik. Der Begriff der Republik hängt mit der Demokratie zusammen und bezeichnet eine repräsentative Regierungsform der gesellschaftlichen Gruppen, welche die Bevölkerung beteiligt, ohne sich von oligarchischen, monopolistischen Eliten daran hindern zu lassen. Der Nationalstaat hingegen beruht auf der Gleichsetzung von Nation und Staat, wie es am besten die faschistischen Staaten Italien, Deutschland und Japan demonstriert haben. Er erkennt die Existenz und die Rechte und Freiheiten verschiedener Interessengruppen innerhalb einer Nation nicht an. Im Grunde handelt es sich um eine Diktatur, woran auch formaldemokratische Tünche nichts ändert. Daher ist es auf dem Weg zu einer Lösung in der Türkei von Bedeutung, die Begriffe »Republik« und »Nationalstaat« zutreffend zu definieren. So kann beispielsweise die kurdische Frage in einer Republik gelöst werden, nicht jedoch in einem Nationalstaat, der die Negation der Republik darstellt. Auch die Klärung der Begriffe »gemeinsame Heimat« und »gemeinsame Nation« ist für eine Lösung von größter Wichtigkeit. Es ist durchaus möglich und in der Geschichte oft vorgekommen, dass Völker von verschiedener Kultur dasselbe geographische Gebiet als gemeinsame Heimat betrachten. Beispielsweise waren Anatolien und Mesopotamien, die heute im Allgemeinen als Türkei und Kurdistan bezeichnet werden, die gemeinsame Heimat vieler Völker – von Türken, Kurden, Armeniern, Aramäern, Arabern, Juden, Christen, Griechen sowie verschiedenen kaukasischen Völkern. Es wäre weder gerecht noch realistisch, sie nur zur Heimat von Türken und Kurden zu erklären. Dass sie in den Grenzen des Staates »Republik Türkei« liegen, begründet keinen alleinigen Besitzanspruch der türkischen Ethnie. Ähnlich lässt sich eine Definition für den Begriff »gemeinsame Nation« entwickeln. Eine Nation besteht nicht nur aus den einzelnen Mitbürgerinnen und Mitbürgern; darüber hinaus, und das ist womöglich noch wichtiger, sollte sie auch als Nation der Völker, denen diese Menschen angehören, sogar als Nation der Nationen begriffen werden. Wenn der Begriff »gemeinsame Heimat« verstanden wird, dann bilden alle Völker und Nationen, die von diesem Begriff umfasst werden und in den Grenzen desselben Staates leben, die Nation dieses Staates. So, wie wir von der »Republik Türkei« und von der »Großen Nationalversammlung der Türkei« sprechen, so wird uns auch der Begriff der »Nation Türkei« aus Sicht der Demokratisierung einer Lösung näher bringen. Auch eine Klärung des Begriffs »Identität« wird zur Lösung beitragen. Identität bezeichnet eine beliebige Art einer Zugehörigkeit wie religiös, national, ethnisch, kulturell oder sexuell. Wichtig ist hierbei, ob wir diese Identitäten als offen und flexibel oder geschlossen und starr betrachten. Offenheit und Flexibilität leistet einen enormen Beitrag zu demokratischen Lösungen, Geschlossenheit und Starrheit dagegen erschweren sie beträchtlich. Wir können es als einen Reichtum betrachten, dass Identitäten sich vermischen. Wichtig ist, zu verstehen, dass eine Synthese etwas völlig anderes ist als die Auflösung einer Identität in einer andern. Beides widerspricht einander. (Das Allerwichtigste in Bezug auf Begriffsfragen ist jedoch, Begriffe nicht zu fetischisieren und nicht eine beliebige gesellschaftliche Tatsache als übertriebenen Begriff und unrealistischen, chauvinistischen Wert zu präsentieren. Beispielsweise widerspricht es dem Geist demokratischer Lösungen, auf variablen und abstrakten Kategorien wie Nation, Land, Religion oder Sprache als fundamentalen, dogmatischen Werten zu insistieren.) Theoretischer Rahmen Ein weiteres Problem der Theorie ist das Verhältnis von Geschichtlichkeit und Gegenwärtigkeit, also dem »Heute«. Der vom Positivismus inspirierte Dogmatismus des Objektiven zeigt sich am deutlichsten in der Auffassung von Geschichte und Gegenwart. Er betrachtet die Gegenwart entweder als eine streng deterministische, quantitative Akkumulation des Geschichte, oder er sieht die Geschichte als eine in die Vergangenheit extrapolierte Gegenwart. Im Grunde ignoriert er den Unterschied zwischen Gegenwart und Geschichte und negiert so die letztere. Die Vergangenheit mit der Gegenwart gleichzusetzen führt aber zu gravierenden Fehleinschätzungen. Ohnehin beruht die positivistische Konstruktion des Jetzt zum allergrößten Teil auf einer Negierung der Wahrheit. In Bezug auf die Geschichte führt der Positivismus entweder zu einer Negation ungeheuren Ausmaßes oder zum Gegenteil, einer Übertreibung. Richtig und notwendig ist eine sorgfältige Forschung darüber, wie die Geschichte das Jetzt bedingt. Kein gesellschaftliches Problem kann losgelöst von der Geschichte oder im Widerspruch zu ihr behandelt und gelöst werden. Das Jetzt ist nicht denkbar, wenn es nicht seine Geschichte widerspiegelt. (Die